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Georg Heinrichs 1926-2020

21. Januar 2021

Fred Plassmann
Fred Plassmann
Georg Heinrichs 1926 – 2020

Georg Heinrichs, Ehrenmitglied des BDA Berlin seit 1994, ist am 20. Dezember im Alter von 94 Jahren in Berlin gestorben.
Wir verlieren einen überaus geschätzten Kollegen, der das Berlin der Nachkriegszeit wesentlich mitgeprägt hat und dessen Leidenschaft bis zuletzt der Architektur galt.
Mit dem sehr lesenswerten beigefügten Nachruf von Nikolaus Bernau möchten wir Georg Heinrichs noch einmal besonders würdigen und ihn mit seinem in einer besonderen Zeit entstandenen Werk in den Mittelpunkt rücken.

Eine Gelegenheit, Georg Heinrichs in seiner unnachahmlichen Art noch einmal persönlich zu erleben, bietet Ihnen zudem unser in der Reihe „StadtGestalten“ 2013 mit Architekturclips produzierte Interviewfilm, den wir Ihnen unbedingt empfehlen möchten: Georg Heinrichs StadtGestalten

Fred Plassmann
Fred Plassmann
Schlangenbader Straße 1976 – 1980

Ein Nachruf von Nikolaus Bernau

Mehr als die Schlange
Der Schöpfer der „Schlange“ und des Märkischen Viertels, Georg Heinrichs, ist verstorben

West-Berlins Baukultur ist – wie der kulturelle Sonderkosmos der Halbstadt insgesamt –  immer noch weitgehend unerforscht. Einer derjenigen, die neben Paul Baumgarten, Fritz Bornemann, Hans Scharoun oder Werner Düttmann – um nur einige inzwischen besser bekannte Größen der ersten und zweiten Nachkriegsmoderne zu nennen – eine zentrale Rolle in einer solchen Untersuchung spielen würde, wäre Georg Heinrichs. Mit seinem langjährigen Büropartner, dem späteren Senatsbaudirektor Hans Christian Müller, mit seiner Frau Ewa Marja und den späteren Partnern Wolf Bertelsmann, Erdmute und Allessandro Carlini und Lutz Linneweber führte er in den 1960er bis 1980er-Jahren eines der in jeder Hinsicht bedeutendsten Planungsbüros West-Berlins.

Kritisch und scharfzüngig bis ins hohe Alter, war er für die Zeitgenossen sicherlich anstrengend, konnte scharf im Ton und in der Aussage sein: Seine ganze Verachtung galt Serienentwürfen und „Rasterachitekten“ oder „Quadratlern“ wie Oswald Mathias Ungers: Die Welt, so Heinrichs einmal im Gespräch, sei plastisch, nicht eckig. Für Architekturtheorie, die sich nicht ästhetisch und bautechnisch beweisen kann, zeigte er in vielen Gesprächen wenig Verständnis, für das Bauen als praktischer Kunst des Ausgleichs zwischen Anforderungen, Technik, Finanzen und Gestaltung umso mehr. Als zweiter Sohn von aus Tallinn ins Deutsche Reich Eingewanderten 1926 in Berlin geboren, wuchs Heinrichs seit 1930 in der damals sensationellen Zehlendorfer Waldsiedlung Bruno Tauts auf. Doch seit 1935 galten auch für ihn, seine Eltern und den Bruder Sergei als „Mischlingen“ die rassistischen „Nürnberger Gesetze“. Seine Großeltern wurden während der deutschen Besetzung Estlands umgebracht, sein Bruder starb im Zwangsarbeiterlager. Heinrichs überlebte mit viel Glück, studierte an der in West-Berlin von Max Taut aus der Tradition der Berliner Moderne der 1920er-Jahre heraus neu begründeten Architekturabteilung der Hochschule für Bildende Künste und wurde selbstbewusst freier Architekt. Das, was ihm spätere Generationen vorwarfen, die enge Bindung an kapitalistische Bauherren, war ihm die Garantie seiner persönlichen Freiheit.

Fred Plassmann
Fred Plassmann
Georg Heinrichs, 2012

Die Karriere begann Ende der 1950er-Jahre mit streng modernistischen Villen für das liberale West-Berliner Bürgertum. Einer der Gründer des Tagesspiegel, Walter Karsch, ließ sich sein Haus auf den Fundamenten der von Walter Gropius entworfenen Villa Lewin errrichten – mit kantigen Ziegelsteinfassaden, organisch fließendem Grundriss und langgestreckter Horizontalität der Linien eines der herausragenden Einfamilienhäuser jener Jahre. Im Bauboom der 1960er bis 1980er-Jahre entwickelte das Büro dann Tausende Sozialwohnungen mit oft raffinierten Grundrissen und charakteristisch horizontal gegliederten, kantigen Fassaden, das brillante Jugendgästehaus des Senats, die Fabriken des Leitz-Konzerns, das inzwischen zur Unkenntlichkeit umgebaute Forum Steglitz an der Schlossstraße als erstes Shop-in-Shop-Einkaufszentrum Deutschlands, das ruchlos dem Verfall überlassene und dann auf Abriss verkaufte, sensationell metallisch blitzende Gebäude des Evangelischen Konsistoriums am Hansaviertel. Vor allem aber der Generalplan für das Märkische Viertel, seit 1960 mit Müller und Werner Düttmann entwickelt, derjenige für das Opernviertel an der Bismarckstraße und die mit Georg und Karl Krebs seit 1971 geplante Autobahnüberbauung an der Schlangenbader Straße sind mit Heinrichs Namen eng verbunden.

Ökonomisch lebte auch dieses Büro wie die meisten seiner West-Berliner Zeitgenossen wesentlich von den durch immense Steuerabschreibungen bewirkten Bundessubventionen für die Halbstadt. Eine Folge dieses dauerhaften Geldflusses war die spätestens seit Ende der 1970er-Jahre scharf kritisierte Nähe zwischen politisch Entscheidenden in Senaten, Abgeordnetenhäusern und Planungsverwaltungen, privaten und gesellschaftlichen Investoren wie dem Neue Heimat-Konzern, der Bauwirtschaft und eben auch vielen Architekturbüros. Diese Nähe war die Grundlage für die großen Bauskandale der 1980er-Jahre, die den Ruf auch von Georg Heinrichs auf lange Zeit überschatteten. Übersehen wurde dabei, dass dieser von Ökonomiezwang weitgehend befreite beständige Geldzufluss nach West-Berlin auch die Grundlage war für eine erhebliche Experimentierlust der offiziellen und kommerziellen Architektur.

Gerade das Projekt Schlangenbader Straße war ein konstruktives und ästhetisches Wagnis: In die eher kleinteilige Wilmersdorfer Bebauung wurde ein gewaltiger Terrassenberg über die Autobahnschneise gewuchtet – bis heute staunen viele Besucher, dass man von deren Lärm und Getöse praktisch nichts mitbekommt dank der doppelschaligen, kompliziert gepufferten Konstruktion des Tunnels und der Überbauten. Die Wohnungen sind wie viele von Heinrichs Grundrissen – keineswegs alle, auch er hat eher bauwirtschaftsfreundlich-belanglanglose Standardentwürfe geliefert wie etwa im Opernviertel – brillant entwickelt: 1064 Wohnungen in 120 unterschiedlichen Typen, die Hälfte mit patioartig angelegten Terrassen, mit Kinder- und Werkräumen, der große, parkartig gestaltete Innenhof und die niedrigere Bebauung an der Straße vermitteln in die Umgebung. Bis in die Gestaltung von Fliesen und Türklinken, aber auch den abgerundeten Pflanztrögen der Terrassen ging sein Gestaltungswille.

Seine Vorbilder waren, das erzählte er gerne, Le Corbusiers Strenge und dessen Bewusstsein für Licht und Schatten – das Modulor-Relief aus Beton vom Berliner Corbusier-Haus hing, von Heinrichs vor der Zerschlagung gerettet, an der Wand des Wohnzimmers. Tauts soziales Verantwortungsbewusstsein war sein Maßstab, wenn es um die Entwicklung von Sozialbauwohnungen ging, vor allem aber die Kunst von Erich Mendelsohn und Alvar Aalto, den großen formalen Außenseiter der Klassischen Moderne. Für Aalto hatte Heinrichs mit dem Schweizer Karl Fleig 1957 den Bau des Hansaviertel-Hauses organisiert – dessen grandiose, bis heute viel zu wenig rezipierte Grundidee, die Wohnungen um den als Patio gedachten Balkon herum zu organisieren, ist bis in der Schlangenbader Straße oder die Bauten an der Uhlandstraße nachspürbar. Der Gigantismus vieler Projekte dieser Jahre der Zweiten Nachkriegsmoderne ist heute oft kaum noch erklärbar. Andererseits wurden hier in Wohnungsgrundrissen und Ideen wie der horizontal lagernden Überbauung von Infrastrukturanlagen Ideen erprobt, die bis heute vorbildlich sein könnten. Immerhin: Die „Schlange“ steht inzwischen unter Denkmalschutz.

Erst Mitte Januar wurde bekannt, dass Heinrichs schon am 20. Dezember 2020 in seiner Heimatstadt im Alter von 94 Jahren verstorben ist. Wie wird sich die Stadt Berlin, wie die Architektenschaft an diesen Architekten erinnern, über den es zwar immerhin drei Filme und die bereits 1984 erschienene Werkmonographie von Anna Teut gibt, auch manche Einzeluntersuchungen und die kleine Ausstellung, die die Berlinische Galerie vor einigen Jahren veranstaltet, dessen Ruf und Bedeutung aber immer noch von der Verachtung des Massenwohnungsbaus der Zweiten Nachkriegsmoderne und dem gigantischen Skandal um die Schlangenbader Straße verschattet wird? Dass die von ihm gerettete Villa Bruno Pauls einer öffentlichen Nutzung zugeführt werden kann ist eher unwahrscheinlich – sie eignete sich wahrscheinlich auch eher als Botschafterresidenz eines durchaus bedeutenderen Staats. Doch der Büro-Nachlass von Heinrichs und Teile seiner bedeutenden Kunst- und Möbelsammlung, zu der den Forschungen von Thomas Steigenberger nach auch Teile jener 1957 sensationellen Musterwohnung im Aalto-Haus gehörten, die sollten gerettet werden können. Wenn denn endlich die Vorurteile gegen diesen erzkapitalistischen, selbstbewusst freien und oft unangepassten Architekten überwunden werden, der West-Berlin mehr prägte als viele seiner Zeitgenossen.

Filmstills von Fred Plassmann aus „STADTGESTALTEN. Kurzfilme mit Zeitzeugen Berliner Baugeschehens – Georg Heinrichs“.
Hrsg. BDA Berlin, Erika Mühlthaler, Fred Plassmann, Berlin 2013
Redaktion Carola Schäfers, Walter Vielain

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